Bischof Stecher Gedächtnisverein

Fastenhirtenbrief "Die Kirche-das vergessene Geheimnis"

15. Feber 1986

Liebe Gläubige!

Eine kleine Begebenheit soll den Anstoß zu einer Besinnung über eine Wahrheit unseres Glaubens geben, die in unserer Zeit eher verblasst:

In der Hinterlassenschaft meines Großvaters befand sich ein unansehnlicher Tabaksbeutel, in dem eine schmutzige, patinabedeckte Münze lag. Sie wurde einem Fachmann vorgelegt, der sie sorgfältig reinigte, bis das Edelmetall zum Vorschein kam und man die Prägung erkennen konnte, sie mit der Lupe betrachtete - und große Augen bekam: Die Münze war eine kostbare Rarität. Sie wurde in der Folge verkauft, und mit dem Erlös begann für eine Reihe aussätziger Menschen in einem der ärmsten Länder der Welt ein neues Leben: für einige wohl die Heilung und für andere wenigstens ein menschenwürdigeres Dasein.

Diese alte Münze erinnert mich an die Kirche. Bei vielen von uns ruht die Kirche doch wie ein Besitz aus alten Tagen im Tabaksbeutel der bloßen Tradition, bei den Dingen, die man nicht gerade wegwirft, aber auch nicht besonders schätzt. Ich glaube, dass es einmal an der Zeit ist, die alte Münze hervorzuholen und ihren eigentlichen Wert zu erkennen.

1. Was uns an der Kirche stört, ist sicher die Patina des Menschlichen und Allzumenschlichen. Wir wollen und können an dem nicht vorbeisehen, was die Kirche entstellt. Der eine ist von ihrer langsamen Entwicklung enttäuscht, der andere fühlt sich von zu raschen Veränderungen überfahren. Manchmal fehlen die menschlichen Kontakte zur Kirche hin, oder sie werden von dorther auch zu wenig gesucht und gepflegt. In tiefer Betroffenheit müssen wir feststellen, dass die Kirche unserer Zeit auch vor dem Skandal nicht gefeit ist, so wie es seit den Tagen des Judas immer wieder Skandale gegeben hat. Und wenn es auch ein Einzelfall ist, bei entsprechender Dimension flimmert er doch über die Fernsehschirme und belastet das Bild der Kirche. Es kann viele Negativ-Erfahrungen geben, wirkliche und vermeintliche Gründe, warum bei manchen Menschen beim Wort „Kirche“ nicht gerade die große Glocke anschlägt. Es mag auch etwas.an der Zeit liegen, die Institutionen nicht besonders schätzt. Es wäre trotzdem falsch, wegen all dieser Patina an der Oberfläche die unansehnliche Münze nicht näher zu betrachten und sozusagen mit spitzen Fingern leicht angewidert in den Tabaksbeutel der Tradition zurückzulegen oder sie gar einmal in irgendeinem Anfall von Ärger wegzuwerfen.

2. Die alte Münze ist nämlich trotzdem eine Kostbarkeit. Dazu muss man die oberflächliche Schicht beiseite lassen und nach dem tiefsten Wesen der Kirche fragen. Welche Prägung wird da sichtbar?

Als tiefstes Wesen der Kirche erscheint auf dem unzerstörbaren Edelmetall, das die Jahrtausende überdauert, das Bild Christi. So unbegreiflich es scheinen mag, es hat dem Herrn, der Gott und Mensch ist, gefallen, auf diesem gebrechlichen Boot durch die Weltgeschichte zu reisen. Wenn man die Kirche nur mit der Brille des Soziologen, des Psychologen oder des bloßen Historikers betrachtet, wird man zwar eine Reihe wertvoller Erkenntnisse beisteuern, aber dieses letzte und tiefste Geheimnis offenbart sich nur dem Auge des Glaubens. Dann aber ergeht es uns ähnlich wie dem Fachmann, der sich mit der Lupe über die Münze gebeugt hat: Die Augen werden groß über diese Anwesenheit Christi in seiner Kirche. Und dieses Wunder geht auf die Aussagen des Herrn selbst zurück.

Der Herr ist gegenwärtig durch seinen Geist , der diese Kirche in den Tagen des Pfingstfestes geformt hat und durch alle Zeiten das Gold der Glaubenswahrheit hütet, der immer wieder in die Segel fährt, wenn uns die Flaute bedroht, der Menschen anrührt und das Wunder des Glaubens aufblühen lässt, neue Erkenntnisse schenkt und mitreißende Persönlichkeiten formt, Initiativen des Religiösen und Sozialen weckt und die Liebe zu den Armen und Unterdrückten wachruft.

Und der Herr ist bei uns durch sein Wort, das im Schoß der Kirche geformt und gehütet wurde, und das uns in jedem Gottesdienst begegnet.

Und Christus bleibt in seiner Kirche in einer Weise, die zu erklären mir Worte und Bilder fehlen, weil diese Form der Gegenwart menschliches Sinnen und Denken übersteigt: Er ist bei uns als Speise und Trank, wirklich und wahrhaftig, so wie er wirklich und wahrhaftig das Kind in der Taufe umarmt, in der Lossprechung die Verzeihung verströmt, in der Salbung ermutigend über die Stirn des Kranken streicht.

Er ist bei uns im Zeichen, das viel mehr ist als ein schönes Symbol, er will bei uns sein in der heiligen Wirklichkeit des Sakraments.

Ich glaube doch, dass heute sehr oft auch im innerkirchlichen Bereich eine Sicht der Kirche vorherrscht, in der das Ergriffensein von der Anwesenheit Christi in seiner Gemeinde glatt untergeht. Die tiefreligiösen Menschen haben dieses Geheimnis immer im Herzen getragen, und ich glaube auch, dass hierin der letzte Grund für die Treue zur Kirche seine Wurzel gehabt hat. Wer das nur einigermaßen ernst nimmt, was Christus selbst von seiner Gegenwartbei den Seinen gesagt hat, der muss die Unhaltbarkeit des Wortes „Christus-ja, Kirche-nein“ durchschauen. Es ist noch widersprüchlicher als das Wort „Mozart-ja, seine Musik-nein“, denn Künstler leben in ihren Werken nur geistig und in der Erinnerung fort, Christus aber lebt in seiner Kirche als lebendige Realität. Er hat sein Wort ganz ernst gemeint: „Siehe, ich bin bei euch, alle Tage, bis ans Ende der Welt …“

3. Und weiters müssen wir die Kirche sehen als das wandernde Volk Gottes. Dieses Bild stammt aus dem Alten Testament und wurde vom letzten Konzil wieder aufgegriffen, und ich glaube, dass es ein besonders passendes Bild für die Kirche dieses Jahrhunderts ist. Wahrscheinlich ist die Kirche noch nie so weit gewandert wie in dieser Epoche. Sie hatte die größten Veränderungen ihrer Geschichte zu bewältigen. Sie musste die Wanderung antreten aus einer abendländischen in eine Weltkirche, aus einer mehr klerikal empfundenen Kirche in ein Kirchenbild des ganzen Volkes und damit auch der bewusst das Leben mittragenden Laien. Die Kirche musste gerade auch in unserem Land mit dem Übergang aus einer gläubig-geschlossenen Gesellschaft in eine pluralistische Welt zurechtkommen-, und wir wissen, wie schwierig es ist, mitten in einer Welt sittlicher Unverbindlichkeit christliche Grundsätze aufrechtzuerhalten. Die Kirche hat bei uns in einem Jahrhundert den Weg aus einer einfachen, schlichten und ärmlichen Welt hinein in eine stürmische Entwicklung der Wirtschaft und damit des Wohlstands zurücklegen müssen. Nach tausend Jahren Verbundenheit mit der politischen Macht ist die Kirche in diesem Jahrhundert durch die Verfolgung gewandert und hat ihre eigentliche seelsorgliche Aufgabe in einer gewissen Distanz zum unmittelbar Politischen finden müssen. Die Kirche hat, was das Verhältnis zu anderen Religionsgemeinschaften betrifft, die verhärteten Fronten verlassen und wurde in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts zu einer offeneren und toleranteren Kirche, die bei den anderen doch auch das Gemeinsame sieht.

Alle diese Wanderungen musste das Volk Gottes zurücklegen -, und es ist fast selbstverständlich, dass derartige Aufbrüche auch Unruhe und Schwierigkeiten bringen müssen. Bei einer rascheren Wanderung zieht sich die Kolonne leicht auseinander. Die einen preschen vor und können die Verbindung verlieren, andere bleiben zurück und gefährden den Anschluss. Aber müssen wir uns im ganzen nicht zutiefst freuen über diese Vitalität der Kirche, die auch nach zweitausend Jahren so lebendig ist und offenkundig unter der Führung des Geistes zu neuen Ufern aufbricht? Die Kirche ist wahrhaftig ein wanderndes Volk Gottes.

4. Wenn man an diese Wahrheiten denkt, dass das tiefste Wesen der Kirche Christus ist, der mit den Seinen durch die Weltgeschichte wandert und das Heil verströmt, dann scheint mir das Gebot der Stunde zu sein, dass wir uns bemühen müssen, in der Kirche lebendige Gemeinschaft zu bilden. Mit „lebendig“ meine ich einen gewissen Zug in die Tiefe und in die Weite. Lebendig also in dem Sinn, dass alle Initiative und alle Aktion, alle Geduld und alles Leid des einzelnen und des Miteinanders in diesem geheimnisvollen Christus gründen, der bei uns ist. Ein Kirchenbetrieb und eine Aktivität, die nicht aus religiösen Wurzeln kommt, kann man vergessen. Ohne ihn können wir nichts tun. „Lebendige Gemeinschaft“ heißt aber auch, dass es eine Welle von Schwesterlichkeit und Brüderlichkeit in der Kirche geben sollte, ein Mühen um Kontakte, Verstehen, Sich-Kümmern und menschliche Beziehungen. Wir sind ja eine Großkirche, eine Kirche der Hunderte von Millionen. Das ist auf der einen Seite erfreulich, auf der anderen auch ein Problem. So große Gebilde sind immer in der Gefahr, unpersönlich zu werden, sich dorthin zu entwickeln, was man im weltlichen Sinn eine Massenorganisation mit vielen Karteileichen nennt. Darum braucht die Kirche das Blühen menschlicher Gemeinschaft im kleinen und das Miteinander von Verantwortung. Das kann in vielen Formen geschehen und geschieht ja auf tausend Weisen. Angefangen vom pfarrlichen Leben im Gottesdienst und in den verschiedenen Räten, Initiativen und Sektionen, vom Kirchenchor bis zum Vinzenzverein, von der Elternrunde bis zur Jugendgruppe, von der Jungschar bis zum Liturgiekreis. Hierher gehören die lebendigen Kontakte, die alte Orden mit ihren Laiengruppierungen oder neue charismatische Gemeinschaften schaffen, die Vereine und verschiedenen Organisationen, die im christlichen Sinne arbeiten. Hierher gehören die schlichten Schritte über die Schwelle zum Nachbarn, die helfenden Kontakte der Caritas und Familienhilfe, die Sorge um Süchtige und Sandler, Einsame und Behinderte, Kranke und Hungernde, Nahe und Ferne. Erst seit ich dieses Amt habe, vermag ich zu ahnen, was es in dieser Hinsicht in unserer Kirche für eine lebendige Vielfalt gibt. Ich habe am Beginn dieses Briefes die Augen vor den Schattenseiten nicht zugemacht, und ich will auch jetzt kein triumphalistisches Bild malen, aber es ist kein Zweifel, diese Wiese Gottes ist kein langweiliger Industrierasen. Auf ihr blühen viele Blumen lebendiger Gemeinschaft und gläubiger wie sozialer Initiative. Und das positive Gesamtbild kann wie bei einer blühenden Almwiese nicht von ein paar Kuhfladen, Maulwurfshügeln oder Brennnesseln beeinträchtigt werden. Ich möchte bei dieser Gelegenheit den vielen Tausenden danken, die sich in unserer Diözese in irgendeiner Weise für lebendige Kirche einsetzen.

Die unansehnliche alte Münze ist also einer tieferen Betrachtung wert, damit uns das Bild neu aufgeht, das in ihr eingeprägt ist: Der Herr, der mit dem wandernden Volk durch die Zeiten schreitet. Und damit das alte Edelmetall der Wahrheit aufleuchtet, das keine Patina zerfressen kann, und damit uns der Wert dieser Münze wieder bewusst wird: Das Heil Gottes, das in lebendiger Gemeinschaft in die Welt strahlen soll. ·

 

Innsbruck, Aschermittwoch 1986

Reinhold Stecher

Bischof von Innsbruck

 

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